Alice Tan Ridley (2010)

„Gott hat etwas anderes für dich vorgesehen“

20 Jahre sang Alice Tan Ridley auf Bahnsteigen der New Yorker U-Bahnen. Unter der Erde, am Times Square. Doch seit ihrem Auftritt bei der TV- Castingshow „America’s Got Talent“ hat sich ihr Leben schlagartig geändert. So wie das ihrer Tochter Gabourey Sidibe, die Anfang des Jahres mit dem Oskar nominierten Film „Precious“ über Nacht berühmt wurde.

Im Gästebuch auf ihrer Website und bei facebook überbieten sich Fans aus aller Welt regelrecht beim Komplimente machen. „Du singst wie ein Engel, deine Stimme ist ein Geschenk Gottes“ findet Nam aus Asien. „Du bist eine Inspiration für mich“, schwärmt Ashley aus Ohio. „Ich komme nächste Woche nach New York. Wann singst Du wieder am Times Square?“ will Robert aus Schweden wissen. Er wird vergeblich auf die Sängerin warten, denn Alice Tan Ridleys einstiger Stammplatz bleibt leer. „Auf unbestimmte Zeit keine Vorstellungen “ steht auf ihrer Homepage.

Mit ihrem Auftritt in der TV-Casting Show „America’s Got Talent“ hat sich die 58 jährige in die Herzen der Menschen gesungen. Auf einen Aufruf hin hatte sie sich bei der Talentshow beworben. „Beim ersten Mal vor ein paar Jahren haben sie mich nicht genommen, beim zweiten Mal klappte es.“ Alice übersteht die ersten Runden, erst im Halb-Finale in Las Vegas wird sie von der Jury nicht unter die Top 10 gewählt. Zum Ärger ihrer Fans. „Ich werde diese Show boykottieren und nie wieder anschauen“, schrieben ihr die enttäuschten Anhänger. „Gott hat etwas anderes für dich vorgesehen“, trösteten sie andere. Alice sieht das genauso. „Ich bin nicht traurig darüber, nicht die Nummer Eins geworden zu sein. Ich brauche keine Nummer“, sagt sie selbstbewusst und lacht. Das Feedback ihrer Fans gibt ihr Auftrieb. „Sie bestärken mich darin, dass ich das Richtige tue. Ich liebe es zu singen. Ich weiß, dass meine Stimme ein Geschenk ist und ich sie mit anderen teilen sollte.“ Obwohl sie den Talentwettbewerb nicht gewonnen hat, berichten zahlreiche Zeitungen über die Frau mit der gewaltigen Stimme. Die berühmte Talkkönigin Oprah Winfrey lud sie zu sich in die Show ein. Der Broadway klopfte bei ihr an. Manchmal, so sagt sie, kann sie das selbst alles noch nicht fassen.

Es ist spät abends. Alice macht sich auf den Weg zur Probe ins Musikstudio nach Brooklyn. Am Times Square steigt sie in die Subway. Genau an dem Ort, wo bislang ihr Arbeitsplatz war. Am Knotenpunkt zwischen der Linie 7 und der Linie S, dem Times Square Shuttle. Das sei ihre Bühne gewesen, wie sie selbst sagt. Hier blieben sie stehen und hielten inne: gehetzte Broker mit Aktentasche unterm Arm, Mütter mit ihren kleinen Kindern, Touristen mit Kameras um den Hals. Die einen wippten, die anderen klatschten mit. Warfen einen Dollarschein oder ein paar Münzen in den Hut. Waren zu Tränen gerührt, wenn Alice mit ihrer kraftvollen Soulstimme Whitney Houstons „I will always love you“ schmetterte und dann in der nächsten Sekunde wieder leise ins Mikro hauchte. Sie lauschten gebannt und vergaßen dabei für ein paar Minuten alles um sich herum. Den Stress. Die Hektik. Das ewig pulsierende Manhattan. „Es passierte oft, dass ich Leuten Taschentücher reichen musste, damit sie ihre Tränen trocknen“, erinnert sie sich und lächelt. „Sie sagten, meine Stimme berühre ihr Herz und ihre Seele.“

 

Seit America’s Got Talent hat sie nicht mehr dort unten gesungen. „Ich vermisse vor allem die intime Atmosphäre und mein Publikum, nach so vielen Jahren hat man sich da so dran gewöhnt“. Normalerweise, erklärt sie, sei sie drei bis viermal pro Woche mit ihrer One Woman Show aufgetreten. Jetzt lebt sie den amerikanischen Traum. Seit ihren Fernsehauftritten hat Alice einen Manager. Ihr erstes Konzert in Maine war ein voller Erfolg. Danach folgten Studioaufnahmen für ihre eine CD, die gerade auf den Markt gekommen ist. Außerdem gäbe es Gespräche wegen einer Broadwayshow, verrät sie. Noch nichts Konkretes, aber wer weiß. Im Januar werde sie jedenfalls im Madison Square Garden singen. Das Konzert sei bereits ausverkauft. Dafür probe sie nun mit ihrer Liveband. „Das bin ich gar nicht mehr gewohnt nach so vielen Jahren als Solo-Künstlerin“, gibt sie zu.

Geboren und aufgewachsen ist Alice Tan Ridley als jüngstes von zehn Kindern im Bundesstaat Georgia. „Ich war das Babygirl“ erzählt sie und erklärt auch gleich, wie sie zu ihrem zweiten Vornamen kam. „Der lautet nämlich eigentlich Ann, aber weil einer meiner Brüder das als kleiner Junge nicht richtig aussprechen konnte, sagte er ständig Alice Tan statt Alice Ann. Irgendwann habe ich es einfach so beibehalten.“ Im Alter von 12 Jahren zieht sie mit ihrer Familie nach New York. „Ich liebte New York, aber welches Mädchen würde das nicht?“ Treibende Kraft in der Familie war ganz klar immer ihre Mutter. „Sie war eine Künstlerin, sie sang im Gospelchor und schrieb Theaterstücke. Von ihr haben wir Kinder das Gesangstalent geerbt. Eine meiner Schwestern durfte zum Beispiel als Vorgruppe für James Brown auftreten. Alles, was wir sind, haben wir unserer Mutter zu verdanken. Sie war eine starke Frau.“

Ebenfalls prägend in ihrem Leben ist für sie der Glaube. „Gott bedeutet mir alles, wir können nichts tun ohne die Liebe Gottes.“ Schon als Kind war sie im Gospelchor der Kirche und mit vier Jahren, so Ridley, habe sie bereits gewusst, dass Singen ihre Bestimmung sei. Anfangs arbeitete sie tagsüber als Lehrerin für behinderte Kinder, nachts sang sie in Clubs. Ihr Ehemann, ein Taxifahrer, der aus dem Senegal stammt und mit dem sie zusammen Tochter Gabby und Sohn Ahmed hat, passte zwar auf die beiden auf, wenn Alice nachts auftrat, aber zwei Jobs waren auf Dauer zu anstrengend. „Die Engagements in den Clubs waren außerdem nicht gut bezahlt und manchmal waren nur drei Leute da. Da dachte ich mir: Ich singe lieber für Menschen, nicht für leere Räume.“ Mit einem ihrer Brüder tritt sie zunächst im Central Park und am Washington Square auf. Irgendwann sucht sie sich alleine einen Platz. Ihre Wahl fällt auf das Herz Manhattans, den Times Square. Ihre inzwischen verstorbene Mutter, gibt Alice zu, war nicht wirklich glücklich damit, die Tochter im Musikgeschäft zu wissen, doch heute, so ist sie sich sicher, wäre sie stolz auf sie.

Das Singen bestimmt Alice Leben. Sogar bei der Erziehung der Kinder war das so. „Ich habe die beiden immer mit Songs diszipliniert, das ist kein Scherz. Wenn ich zum Beispiel die Melodie vom Pink Panther gesungen habe, dieses Dam da dam, dann wussten sie genau, dass sie was angestellt hatten und es gleich Ärger gibt.“ Ihr persönliches Lieblingslied ist „ Try a little tenderness“. Doch in den eigenen vier Wänden singt sie schon lange nicht mehr. Das habe nur zum Massenauflauf im Treppenhaus geführt. „Plötzlich liefen die Leute aus dem Haus zusammen und stauten sich vor meiner Türe.“ Von ihrem Ehemann, mit dem sie 14 Jahre verheiratet war, hat sich Alice getrennt, dennoch legt sie großen Wert darauf, dass ihre Kinder die afrikanischen Wurzeln nicht verlieren. „Die beiden reisen regelmäßig in den Senegal, sie haben einen engen Bezug zu der Heimat ihres Vaters und ich bin froh darüber.“ Selbst im fernen Afrika wissen die Verwandten, wie berühmt ihre Tochter Gabby ist. Seit ihrer Hauptrolle im Drama „Precious“, in dem sie eine übergewichtige junge Frau spielt, die zuerst vom Vater missbraucht und dann von der Mutter misshandelt wird, kennt jeder die 150 Kilo schwere Darstellerin. Erst im Oktober schaffte sie es sogar aufs Titelblatt der Elle. „Ich bin so stolz auf sie“, sagt Alice, „sie sieht einfach toll darauf aus. Es gibt viele starke Frauen in der Welt und sie repräsentiert sie als Vorbild für andere.“ Den Versuch, ihre Tochter zu einer Diät zu bewegen, hat Alice nie gemacht. „Ich selbst bin mein Leben lang kein Fliegengewicht gewesen, habe zig Diäten gemacht, um Gewicht zu verlieren. Meine Mutter wollte das immer von mir. Das wollte ich Gabby ersparen. Wenn sie es selbst gewollt hätte, okay, aber ich hab sie nie dazu gezwungen.“

Beinahe hätte sie selbst übrigens in „Precious“ mitgespielt. „Vor fünf Jahren wurde ich von Regisseur Lee Daniels bereits angesprochen, ob ich die Mary, die Mutter der Hauptdarstellerin spielen wolle. Doch als ich das Script las, wusste ich für mich: So einen Charakter kann ich nicht spielen. Ich bin Lehrerin. Nicht mal in einer Rolle kann ich mir vorstellen, das einem Kind anzutun. Ich lehnte das Angebot ab. Als Gabby fünf Jahre später von einem Freund zu einem Casting geschleppt wurde, wusste sie nicht mal, dass es um denselben Film ging. Sie bekam sofort die Hauptrolle. Ich konnte es nicht glauben.“ Alice strahlt immer noch übers ganze Gesicht, wenn sie vom Oscar-Abend erzählt. „Es war ein tolles Gefühl, über den roten Teppich zu laufen und George Clooney von Nahem zu sehen. Ich liebe ihn. Ich habe ihm zu gewunken und zu Paris Hilton habe ich auch ‚Hallo’ gesagt“, plaudert sie kichernd. Die berühmte Kleiderfrage für den besonderen Abend überließ sie anderen. „Ich sagte: Wenn ihr mich zu den Oscars einladet, dann sagt mir, was ich anziehen soll.“ Gabby ging ohne die begehrte Trophäe nach Hause. Doch das sei, so die Mutter, nicht schlimm. Denn ihre Karriere gehe trotzdem weiter. Momentan spielt Gabby in der erfolgreichen Comedy-Serie „The Big C“ mit.

Alice ist in Brooklyn angekommen. Eine Treppe führt hinunter zu den Proberäumen des Musikstudios. Durch jede der Türen dröhnt ein anderer Sound. Aus der einen kommen Heavy-Metal Klänge, hinter der nächsten wird Rock gespielt. Die Wände vibrieren. Im letzten Raum am Ende des Ganges wartet schon ihre Band auf sie. Instrumente werden gestimmt, es gibt einen kurzen Soundcheck. Dann geht die Probe los. Alice singt „What’s love got to do with it“ von Tina Turner. Ihre Stimmgewalt berührt mit Gänsehautgefühl. Alice schließt die Augen, wenn sie singt, geht mit dem Rhythmus der Musik mit. Ihre Stimme ist voller Energie und magisch. Das weiß sie. Wovor sie aber Angst hat, ist die neue Distanz. „In der Subway war ich meinem Publikum so nahe, da brauchte ich keine Verstärkung, denn das Publikum war mein Backup, die kennen die Songs. Jetzt bin ich auf großen Bühnen, da muss ich mich daran gewöhnen, alleine da oben zu stehen.“

 Ihr größter Traum für die Zukunft ist es, sorgenfrei zu leben. Zu singen, weil sie es möchte, nicht, weil sie es muss. Was nicht bedeutet, dass sie ihre Fans von Times Square vergisst. „So sehr wie ich mein Glück genieße und hoffe, erfolgreich zu sein, will ich nicht vergessen, wo ich herkomme. Wenn ich die Zeit habe, werde ich mindestens einmal im Jahr an den Times Square zurückkehren auf meine alte Bühne. Das bin ich meinen Fans schuldig.“ Es ist ein Versprechen. Bis dahin bleibt der Times Square ohne Seele.

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